Samstag, 20. April 2024

Kommentar: „Mut haben, sich dieser Krise auszusetzen“

Dr. Christof Beckmann, KiP-NRW

Was hat der Papst gesagt? Was steht zwischen den Zeilen? Das heutige Antwortschreiben von Papst Franziskus an Reinhard Kardinal Marx wird von Tausenden aufmerksam gegengelesen. Am Freitag, 4. Juni, hatte Marx bekannt gegeben, dass er am 21. Mai dem Papst seinen Rücktritt angeboten habe. Dieser wiederum hat nun entschieden. Überraschend schnell. Er nahm den Rücktritt nicht an: „Lieber Bruder. Mach weiter, ... als Erzbischof von München und Freising.“ Was steht nun drin?

1.

Papst Franziskus dankt Kardinal Marx für das Zeichen, lobt seinen Mut, bezeichnet die ohne Angst getroffene Entscheidung als „Gnade“. Er stimmt der von Marx beschrieben Sicht auf die Kirche zu, äußert Respekt für den Schritt, vorbehaltlos Verantwortung übernehmen zu wollen. Und stellt klar, was das für die gesamte Kirche selbst bedeutet: Die Krise wirklich zu sehen, die „Vogel-Strauß-Politik“ zu beenden und die Lage nach dem kirchlichen Umgang mit dem sexuellen Missbrauch in ihren Folgen so anzunehmen, wie sie ist - eine Katastrophe: „Angesichts dieses Verbrechens können wir nicht gleichgültig bleiben. Das anzunehmen bedeutet, sich der Krise auszusetzen. Nicht alle wollen diese Tatsache annehmen, aber es ist der einzige Weg“, so der Papst. Und nochmal: „Die Krise anzunehmen, als einzelner und als Gemeinschaft, das ist der einzige fruchtbringend Weg; denn aus einer Krise kommt man nur in Gemeinschaft heraus.“

2.

Zum zweiten gelte die Pflicht, angesichts der Verbrechen, auch die der Vergangenheit, die Verantwortung zu übernehmen – als Gemeinschaft wie als Einzelne. Und das gehe weit über Worte, Erklärungsversuche und Beteuerungen guter Vorsätze hinaus. Es gehe nicht, dass man sich herausrede, die Wirklichkeit beschönige. Vielmehr sei eine Änderung der Verhaltensweise gefragt. Und das, sagt er, müsse sogar wehtun: Es gehe nicht ohne „poner la carne sobre el asador / sein Fleisch auf den Grill zu legen“, so der drastische Original-Wortlaut. Das gelte nicht zuletzt für jeden Bischof, der auf diese Katastrophe auch persönlich zu antworten habe. Ohne die Annahme dieser Krise werde die Kirche keinen Schritt mehr vorwärtskommen: „Das Schweigen, die Unterlassungen, das übertriebene Gewicht, das dem Ansehen der Institutionen eingeräumt wurde – all das führt nur zum persönlichen und geschichtlichen Fiasko; es führt uns dazu, dass wir mit der Last leben, „Skelette im Schrank zu haben“, wie die Redewendung sagt“, so der Papst.

3.

Jetzt sei wichtig, die Realität des Missbrauchs und des Umgangs zu „ventilieren“ und damit die Hintergründe zu „lüften“. Und vor allem demütig zu bekennen: „Wir haben Fehler gemacht, wir haben gesündigt“. Es seien „nicht die Untersuchungen, die uns retten werden, und auch nicht die Macht der Institutionen. Uns wird nicht das Prestige unserer Kirche retten, die dazu neigt, ihre Sünden zu verheimlichen“, unterstreicht Papst Franziskus, auch nicht die Macht des Geldes oder die Meinung der Medien, von denen man oft allzu abhängig sei. Vielmehr beginne jede Reform in der eigenen Umkehr, im persönlichen offenen Bekenntnis der eigenen Sündhaftigkeit, des Versagens und der Unzulänglichkeiten.

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Soweit der Brief einmal zusammengefasst. Aber was ist es nun? Eine freundschaftliche Geste an die Isar? Ein klares Signal an den Rhein oder gar auch an den Tiber selbst? Wird das Schreiben dem Drama des Missbrauchs und der Opfer wirklich gerecht? Ist es eine verpasste Chance? Stützt der Brief den „Synodalen Weg“? Verdammt er die vielstimmigen Reformer als wirklichkeitsfremde „Ideologen“? Oder hat er vielmehr die Reformbewegungen jetzt sogar deutlich unterstützt?

Was immer nun aus dem an Kardinal Marx gerichteten Brief herausgelesen wird – seine Botschaft ist sehr viel grundsätzlicher Art. Und er betrifft nicht nur die Zukunft des Erzbischofs von München und Freising. Denn nicht nur in Deutschland ringt die Kirche darum, Glaubwürdigkeit und Vertrauen wiederherzustellen. Papst Franziskus ist dies sehr bewusst und er skizziert mit großem Ernst, was zu tun ist. Was ist also - jenseits aller Spekulationen zu den weiteren Folgen des außergewöhnlichen Schriftwechsels  - zu tun?

1. Die Wirklichkeit sehen, Schluss mit Vertuschen, Beschwichtigen und persönliches Versagen klar benennen,

2. Verantwortung für die im Raum der Kirche geschehenen Verbrechen übernehmen,

3. die aus der Katastrophe entstandene Krise deutlich zu sehen, mit allen schmerzhaften Konsequenzen als Herausforderung anzunehmen und sich nicht in eine vermeintlich bessere Vergangenheit zu flüchten,

4. es nicht bei strukturellen Reförmchen und bei vielen Worten zu belassen, sondern ganz persönlich, mutig und ohne Angst Zeugnis für den österlichen Glauben abzulegen.

Links:

10.06.2021: Papst-Brief an Kardinal Marx: Hier der Wortlaut

10.06.2021: Bitte um Amtsverzicht abgelehnt Papst lehnt Rücktritt von Kardinal Marx ab

10.06.2021: Kardinal Marx überrascht von Papst-Entscheidung

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